Mentalisierung entwickelt sich dann, wenn zwischen dem Säugling und der Bezugsperson ein intersubjektiver Prozess gemeinsamer Erfahrung stattfindet.Die Bindungsdyade bildet den Ausgangspunkt und den interpersonellen Rahmen zum Erlernen und Verfeinern des mentalistischen Zugriffs auf die soziale Umwelt.
1.) Geburt bis neunter Monat: physisch und sozial
Bereits Säuglinge sind in der Lage komplexe Kontingenzen zu erfassen: gemeint sind Zusammenhänge, Bedingtheiten und Ähnlichkeiten zwischen Reizereignissen. Diese sind entweder Folgen der eigenen Motorik (perfekte Kontingenz) oder stammen aus anderen Quellen (unvollkommene Kontingenz). In den ersten drei Lebensmonaten favorisieren Säugling perfekte Kontingenzen, also selbst erzeugte Vorgänge, ab dem vierten Monat interessieren sie sich auch für von anderen erzeugte Vorgänge (unvollkommene Kontingenz). Diese Fähigkeit ist angeboren.
Man geht davon aus dass Säuglinge bereits in den ersten Lebensmonaten in der Lage sind zu erkennen , dass das eigene Selbst eine physische Entität darstellt, die kausal Veränderungen der angrenzenden Umwelt herbeiführen kann.
Zur Affektregulation ist er/sie jedoch von der primären Bezugsperson abhängig. Nach Fonagy (2002) können Säuglinge zwar Basisemotionen zeigen und erleben, dies ist aber prozedurales, implizites Wissen und kann vom Säugling selbst nicht differenziert werden. Dafür ist die Beobachtung der Affektausdrücke anderer Menschen nötig, sowie die Verknüpfung des Affekts mit der jeweiligen Situation und der Verhaltensweise die den Affekt begleitet.
Die soziale Biofeedback-Theorie von Gergely und Watson (1996) stellt eine Verbindung her zwischen den angeborenen Kontingenzfähigkeiten des Säuglings mit spezifischen Affektregulationserfahrungen durch die Co-Regulation der frühen Bezugsperson. Zusammen ermöglicht dies dem Säugling den Aufbau sekundärer Kontrollstrukturen für primäre Selbstzustände.
Säuglinge erleben primäre, körpernahe und affektive Zustände, die sie weder verstehen noch regulieren können. Er/sie kann aber seine primären Selbstzustände (Affekte) in angeborenen Verhaltensweisen ausdrücken. Dies löst bei Bezugspersonen eine Resonanz aus, so dass der Affekt des Säuglings von der Bindungsperson aufgenommen, mentalisiert und gespiegelt werden kann.
Affektspiegelung dient einerseits der Regulierung der inneren Zustände des Säuglings, anderereits ist sie die Grundlage des Aufbaus der sekundären Repräsentanzen der primären Zustände. Der Säugling lernt seine Gefühle verstehen durch die Verknüpfung und Internalisierung der Beobachtung von Affektausdrücken Anderer mit dem jeweiligen Kontext und den eigenen inneren Zuständen. Die „automatischen“ Primäremotionen werden so mit sekundären Kontrollstrukturen verbunden die im Laufe der Entwicklung die Sensibilisierung, Identifizierung, Repräsentanz und somit Kontrolle über die eigenen inneren Zustände ermöglichen.
2.) Neun Monate bis zwei Jahre: Teleologisch
Ab neun Monaten sind Säuglinge in der Lage ihr Selbst und ihre soziale Umwelt in einer neuen Qualität zu erfassen: (Neunmonatsrevolution, Tomasello: 1999) Neue Verhaltensweisen umfasssen: gemeinsame Aufmerksamkeit wie Blickverfolgung, soziale Rückversicherung, nachahmendes Lernen und imperative und deklarative Gesten. Außerdem: zielgerichtete, koordinierte Mittel-Zweck-Verhaltensweisen, sowie Interpretation von zielorientiertem rationalem Verhalten Anderer.
Teleologischer Standpunkt: „Naive Theorie Rationalen Handelns“ der auf Menschen und unbelebte Objekte angewendet wird. Säugling = teleologischer Akteur. Noch kein Verständnis von intentionalen mentalen Zuständen, lediglich Repräsentation eines zielgerichteten Verhaltens des Gegenübers. Repräsentanzen sind prä-symbolisch und entsprechen eher mentalen Modellen zur Vorhersage von Verhaltensweisen. Eine rationale Beziehung zwischen Aktion, Zielzustand und Realität wird hergestellt, die auf mentale Interpretation innerer Zustände verzichtet. Dieser Mechanismus versagt erst bei imaginären (fiktiven oder kontrafaktischen) Realitäten,
3.) Drei bis vier Jahre: intentional
Im Laufe des zweiten Lebensjahrs entwickelt sich das „Als-Ob“ Spiel. Dieser Modus (so tun als ob) eröffnet dem Kind einzigartige Zugänge zu Prozessen und Informationen, die vorher nicht zugänglich waren. Voraussetzung: symbolischer Repräsentation von Gegenständen, Handlungen und Ereignissen. Außerdem verlangt eine „Als-Ob“ Handlung eine explizite Markierung, um sich von einer realistischen Handlung zu unterscheiden. Da die sekundären Repräsentanzen bereits verfügbar sind, ist es dem Kind partiell möglich, Repräsentationen von der Realität abzukoppeln. Damit wird es möglich auch Gefühle und Gedanken von ihrem Referenten zu lösen und „spielerisch“ zu verwenden. Dies eröffnet einen innerpsychischen Raum der als Mentalisierungsvorläufer gelten kann.
Ab zwei Jahre kann das Selbst des Kleinkindes als „intentionaler Akteur“ bezeichnet werden. Als solches kann das Kind Verhalten vorhersagen da es über die Fähigkeit verfügt, innere mentale Zustände zu repräsentieren. Der Übergang zum intentionalen Weltbild findet von 3 bis 5 Jahren statt. In diesem Alter beginnen Kinder anderen Menschen vorausgehende Intentionen wie Wünsche oder Gefühle zuzuschreiben. Sie sind in der Lage, intentionale mentale Zustände sowie mentale Verursachung zu repräsentieren. Zusätzlich können sie anderen Personen subjektive Zustände zuschreiben, die sich von den eigenen Unterscheiden.
Dennoch dominiert im Erleben des 2-5 jährigen Kleinkinds häufig noch der Modus der Psychischen Äquivalenz: Eigene Gedanken werden als real, wahrhaftig und denen anderer identisch betrachtet, da Gedanken Kopien der Realität darstellen. Eigene Wünsche und Gedanken können noch nicht repräsentional betrachtet werden sondern nur als Teil der physikalischen Realität. Das Erleben des Kindes ist zwar realitätsorientiert, aber konkretistisch: es werden direkte Verbindungen zwischen Personen und Objekten angenommen, ohne eine innere Repräsentation („Wunsch“) zu postulieren. Somit hat auch Sprache noch keinen symbolischen Charakter. Ohne die Fähigkeit zur Mentalisierung haben innerpsychische Phänomene (Fantasien usw.) eine der äußeren Realität vergleichbare Qualität und somit einen direkten, nicht veränderbaren und übermächtigen Einfluss auf das Kind und die Anderen, was bei negativen Inhalten Ängste auslösen kann.
Das kindliche Spiel ist in diesem Altern zentral für die Entwicklung des Denkens, der emotionalen Erfahrung sowie der Integration der dualen Denk-Modi. Dem Kind ist klar dass ein Gegenstand etwas anderes repräsentieren kann (Banane = Telefon). Es hat aber noch keine Symbole für innerpsychische Befindlichkeiten im Sinne von metakognitivem Wissen oder Repräsentanzen zweiter Ordnung, die den repräsentationalen Charakter seiner mentalen Welt widerspiegeln. Es kann passieren dass während des Spiels der „Als ob“ Modus kippt in den Modus der Psychischen Äquivalenz, was starke negative Affekte mit sich bringen kann.
4.) Fünf Jahre: mentalisierend
Integration der beiden Modi „Als-Ob“ und „Psychische Äquivalenz“. Das Selbst als repräsentationaler oder mentalisierender Akteur. Das Kind kann seine eigenen und fremden Überzeugungen als Repräsentationen verstehen, das heißt es weiß das Überzeugungen falsch sein können da sie nur Repräsentationen der Realität sind. Der Modus des Mentalisierens ist damit zugänglich. Das Abkoppeln der Vorstellungen von der Wirklichkeit beruht auf der Erfahrung der Reflexion eigener psychischer Zustände durch die Bezugsperson. Diese zeigt dem Kind eine alternative Sichtweise, die sich eben nicht in dessen Vorstellung befindet.
Das Kind kann nun mentaliseren und verschiedene Perspektiven in Bezug auf menschliches Verhalten einnehmen. Kinder verstehen zuerst dass Menschen unterschiedliche Gefühle haben können, und danach andere mentale Zustände wie Überzeugungen usw. usf.
Literatur:
Svenja Taubner, Mentalisieren über die Lebensspanne (2018)
in: Handbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik, Gingelmaier, Taubner & Ramberg (Hrsg.)