Gestern habe ich die Doku „Elternschule“ im lokalen Kino gesehen. Ich war auf den Film neugierig geworden nachdem eine gewisse Aufregung im Netz über den Trailer zum Film aufgetaucht war. Der Film solle verboten werden, hieß es, hier würden Kinder gequält und misshandelt. Reine Kinderseelen würden verbogen und verdorben von Ärzten und Psychologen.
Schon aus beruflichem Interesse musste ich mir das also ansehen. Es stimmt, einige Szenen von schreienden Kindern und verzweifelten Eltern waren schwer zu ertragen und haben mich nicht ungerührt gelassen. Aber von Quälerei kann keine Rede sein.
Der Film zeigt exemplarisch einige Verläufe von Eltern und Kindern die sich mit schwerwiegenden, chronischen Problemen an die Kinderklinik in Gelsenkirchen wenden und dort eine spezialisierte stationäre Behandlung erfahren. Es handelt sich um Kinder mit sehr wählerischem Essverhalten, mit Schwierigkeiten beim Ein- und Durchschlafen, mit über vierzehn (!) „Schreistunden“ täglich.
Der Psychologe Dietmar Langer erklärt im Film ausführlich das Konzept der Klinik und die Dynamik der Machtkämpfe zwischen Eltern und Kindern. Der Film begleitet die Eltern und Kinder über den Verlauf des Aufenthalts, zeigt Krisen und Durchbrüche, bis hin zur Besserung der Symptome und der Entlassung aus der Klinik. Jeder Therapieschritt wird im Seminarraum der „Elternschule“ vorher gut erklärt und verständlich gemacht.
Zunächst finde ich es bemerkenswert, dass ein Dokumentarfilm über Psychologische (Psychosomatische) Themen soviel Aufmerksamkeit bekommt und ein (überschaubares) Publikum findet. Über Ärzte und Krankenhäuser gibt es ganze Staffeln von Serien, über Psychologen und Therapeuten gab es bislang wenige Film- und Fernsehproduktionen die realistisch den Berufsalltag abbilden. Insofern ist die Doku in meinen Augen ein Glücksfall. Dass der Film als solcher so gut funktioniert, hat meiner Meinung nach auch mit der (zwar als ganzheitlich angepriesenen) jedoch stark verhaltenstherapeutischen Ausrichtung der Klinik Gelsenkirchen zu tun. Diese hat den Vorteil, die Privatsphäre der Eltern und Familien wenigstens einigermaßen zu schützen, da die Erklärungen des Psychologen Dietmar Langer auf einem eher technischen, allgemeinen Niveau bleiben. Es gibt dort kein Konzept vom „Inneren Kind“. Die Eltern werden weder beschuldigt noch beschämt, sondern es wird konstruktiv mit ihnen an der Besserung der Symptomatik gearbeitet. Und das obwohl der Film auch die Besprechungen des Pflege- und Therapeutenteams im Besprechungszimmer zeigt (ein weiterer „Glückstreffer“ des Films der Transparenz schafft und Mythen abbaut).
Respekt vor dem Mut der Eltern und Therapeuten, sich in so verletzlichen Situationen zu zeigen. Gerade die Pflegerinnen und Therapeuten sind durchaus in schwierigen Situationen zu sehen die nicht unbedingt perfekt ablaufen. Es ist eindeutig dass auch das Pflege- und Therapeutenteam an seine Grenzen kommt im Machtkampf mit den chronifizierten Symptomen der gezeigten Kinder.
Dennoch geben sie nicht auf und bestehen darauf, dass sie als Erwachsene Vorbildfunktion haben und die Führung behalten. Mit Erfolg (in vielen Fällen). Sie sind „gut genug“ im Sinne der Bindungstheorie und damit auch Vorbild für die gezeigten Eltern.
Warum gab es also eine derartige Aufregung um diesen Film?
Ich sehe den Hauptgrund im Konflikt zwischen folgenden scheinbar widersprüchlichen Perspektiven:
Die erste Perspektive ist die der romantischen Verklärung der Kindheit. Aus Erwachsenensicht ist Kindheit im Rückblick ein paradiesischer Zustand, der droht verloren zu gehen und der bewahrt und geschützt werden muss. Die Kindheit ist eine Zeit, in der „noch alles gut war“ und die man gegen die Tendenzen unserer Epoche (Technisierung, Entfremdung, Vereinsamung) verteidigen muss. Kinder müssen vor allem Unbill und Übergriffen geschützt werden. Außerdem soll jeder Erwachsene sein „Inneres Kind“ wieder finden, mithilfe von Bestsellerbüchern und Seminaren.
Die zweite Perspektive ist die des Psychologen Dietmar Langer im Film: Kinder sind ab dem Alter von zwei Jahren in der Lage, Wutanfälle und Weinattacken strategisch einzusetzen um Eltern zu manipulieren ihre Wünsche zu erfüllen. Dies ist zum einen genetisch bedingt: Kinder müssen und mussten in der Lage sein, emotionale Reaktionen in ihren Bezugspersonen hervorzurufen, um sie dazu zu bringen sich um sie zu kümmern, sie zu versorgen usw; da sie selbst (noch) nicht dazu in der Lage waren und sind. Kinder sind also grundsätzlich (ab einem gewissen Alter) fähig, zu lügen und zu betrügen, alles für ihre eigenen Zwecke. Das Kind als das egoistischste aller Lebewesen, „Ich will meinen Willen durchsetzen, alles andere und ihr allen anderen seid mir egal“. Das Kind als Satansbraten, gekommen um zu bleiben.
Die Kollision dieser Standpunkte erklärt für mich die Aufregung über den Film „Elternschule“. Ich behaupte dass Viele Kritiker des Films die real gezeigten Kinder mit ihrer Vorstellung von Kindheit verwechseln oder überfrachten und die zweite Perspektive zu wenig beachten. Es sind immer nur Erwachsene die Kindheit als Paradies bezeichnen, von Kindern habe ich das noch nicht gehört. Kinder denken über so etwas nicht nach. Einige möchten sogar lieber schnell „groß“ und Erwachsen werden, um endlich machen zu können was sie wollen. Um ganz deutlich zu werden: Die „Reine Kinderseele“ ist eine Erfindung von klugen Geschäftsleuten, um besser Babynahrung oder Feuchtigkeitscreme verkaufen zu können.
So weit so polemisch. Nichtsdestotrotz täte es meine Meinung nach gut, das Konzept der Klinik Gelsenkirchen auch vor dem Hintergrund anderer gut erforschter Therapieschulen, wie etwa der Bindungstherapie, zu beleuchten und kritisch zu hinterfragen. Ich wäre nicht überrascht wenn in ein, zwei wesentlichen Punkten noch ernstzunehmendes Diskussionspotential entstehen würde. Das wäre toll, am besten konstruktiv, im Rahmen des wissenschaftlichem Diskurses, belegt mit empirischem Material und im Bestreben, bestehende Strategien zur Heilung von Kindern, Eltern und Familien noch weiter zu verbessern.
"Shantih Shantih shanti"
T.S. Eliot, Letzte Zeile des Gedichts 'The Wasteland'