Ich halte die Bindungstheorie für eines der wichtigsten Instrumente zum Verstehen von menschlichem Verhalten. Sie ist ausgezeichnet durch Forschungsdaten belegt, hat große praktische Relevanz für die Behandlung von psychischen Problemen (z.B. Traumata) und ihre Wirkung reicht weit hinein in die Psychologie, Pädagogik, Soziologie und Verhaltensbiologie und ist prägend für viele Weltbilder, die Sinn und Zusammenhang vermitteln.
Trotzdem hatte ich immer auch ein Problem mit der Bindungstheorie. Ich möchte im folgenden darüber nachdenken, woran das liegen könnte und was ich bräuchte, um dieses Unbehagen zum Schweigen zu bringen.
John Bowlby war ursprünglich Psychoanalytiker und entwickelte an der Tavistock Klinik seine Theorie. Bei der Veröffentlichung kam es zum Streit mit der Psychoanalytischen Vereinigung, dennoch blieb er in Kontakt und war sogar lange Zeit stellvertretender Präsident des Vereins. Die Fähigkeit, Konflikte auszuhalten und dennoch in Kontakt zu bleiben, hat Bowlby offensichtlich beherrscht und damit seine Theorie auch gelebt. Dafür hat er meinen Respekt.
Auch Mary Ainsworth, Bowlbys Forschungspartnerin und Schülerin, hat viel zur Bindungstheorie beigetragen, indem sie das Forschungsparadigma der „Fremde Situation“ entwickelte und eine gewaltige Menge von Forschungsdaten erfasste, sogar in fremden Kulturen wie etwa in Afrika. Damit setzte Sie auch den Grundstein für die kulturübergreifende Gültigkeit der Bindungstheorie: Obwohl es zum Teil große kulturelle Unterschiede im Umgang von Müttern und Kindern gibt, sind die Merkmale der sicheren Bindung überall die selben, ebenso wie die Merkmale der unsicheren und gescheiterten Bindung (Die Statistiken unterscheiden sich leicht, so gibt es in kollektiven Kulturen wie Japan etwa keinen vermeidenden Bindungsstil, sondern fast ausschließlich sichere und unsicher-ängstlich gebundene Menschen).
Wo liegt also mein Problem mit der Bindung? Das Problem beginnt dort, wo in aktuellen Lehrbüchern zur Bindungstheorie der sichere Bindungsstil als alleiniger Heilsweg propagiert wird. Der größte Schutz vor psychischen Krankheiten? Die sichere Bindung. Der beste Prädiktor für ein gelingendes Leben, eine gelingende Ehe, eine gelingende Karriere? Sichere Bindung.
Gleichzeitig wird kein Weg aufgezeigt, wie man dorthin gelangen kann. Der Bindungsstil wird als früh festgelegte Gehirnstruktur beschrieben, die im Wesentlichen unverändert bleibt und nur sehr schwer nachträglich verändert werden kann. Es werden Programme unterstützt, die die frühe Entwicklung fördern sollen, aber für Erwachsene Menschen ist der Zug im Prinzip abgefahren.
Damit ist der Grund für mein Bauchweh mit der Bindungstheorie gut auf den Punkt gebracht.
Was bräuchte ich, um mein Unbehagen zu lindern? Ich werde andeuten, in welche Richtung es gehen könnte.
Ich habe 2017 an der Internationalen Bindungskonferenz in Ulm, Gastgeber Dr. Karl-Heinz Brisch, teilgenommen. Dort habe ich einen Vortrag gehört von Frau Dr. Michal Paz Shimony, eine Psychologin aus Israel, zum Thema: „Bindungstheorie und Gruppenprozesse: Der Zusammenhang zwischen Bindungsstil und gruppenbezogenen Repräsentationen, Zielen, Erinnerungen und Funktionen“ Ich möchte hier nicht zu fachlich werden aber die wichtigsten Punkte herausgreifen.
Frau Dr. Shimony forschte in Kampftruppen der israelischen Armee über den Einfluss des Bindungsstils auf die Leistungsfähigkeit von Gruppen, und den Einfluss des Vorgesetzten auf den Gruppenprozess: „Entsprechend meines Modells verändern wiederholte Interaktionen mit ansprechenden und unterstützenden Führungskräften und kohäsiven Gruppen vorteilhaft die Bindungsmuster einer Person und deren psychologische Funktionsfähigkeit.“
Sie fand heraus, dass eine „gemischte“ Zusammensetzung der Truppe die besten Leistungswerte und die beste Zufriedenheit mit der Gruppe erbrachte. „Gemischt“ heißt in diesem Zusammenhang dass Soldaten mit sicherem Bindungsstil, mit unsicher-vermeidendem Bindungsstil sowie mit unsicher-ängstlichem Bindungsstil Teil der Truppe waren. Es stellte sich heraus, dass die Soldaten ihre Unterschiede schätzen lernten und sich gegenseitig den Rücken freihielten, um die Gruppenleistung zu maximieren.
An dieser Stelle des Vortrags machte Frau Dr. Shimony (die übrigens hochschwanger war, als sie den Vortrag hielt) ein Beispiel, um die Unterschiede deutlich zu machen. Nach der Katastrophe des 11. September 2001 („Nine-Eleven“) wurden mit Überlebenden, die die einstürzenden Hochhäuser rechtzeitig verlassen hatten, Interviews geführt. Daher weiß man, dass unsicher-ängstliche Menschen die Ersten waren die spürten das etwas nicht stimmte, und das Hochhaus schnell verließen. Umgekehrt waren unsicher-vermeidende Menschen die ersten die ihre Handlungsfähigkeit wieder erlangten und z.B. Hilfe leisteten oder Verletze in den Trümmern suchten. Diese Menschen scheinen in unklaren Situationen autonom und schnell handeln zu können (um den Preis der Gefühlsunterdrückung und inneren Anspannung).
Mit anderen Worten, in Extremsituationen scheint es ein evolutionärer Vorteil zu sein, KEINE sichere Bindung zu haben. Möglicherweise macht es Sinn, dass in der Gesellschaft 50% sichere Bindung, 25% vermeidene und 15% ängstliche Bindung auftreten. Vielleicht ist es für die Menschheit insgesamt sinnvoll, alle jeweiligen Vor- und Nachteile zur Verfügung zu haben und gegenseitig davon zu profitieren. Das ist eine fundamental andere Sichtweise als „Wir müssen alle Menschen auf sichere Bindung trimmen“ wie sie aktuelle Lehrbücher vertreten.
Zumindest kann man sagen, dass Teams am besten funktionieren wenn es Ihnen gelingt, ihre Unterschiede (auch im Sinne des Diversity Managements) zu würdigen und zu integrieren. Voraussetzung ist eine fähige, ansprechbare Führungskraft und ein gelingender gruppendynamischer Lernprozess.
Wenn diese Perspektive der Integration von Unterschieden gelingt und ein Abweichen von der „Norm“ der sicheren Bindung nicht mehr pathologisiert, sondern wertschätzend Umgedeutet (Re-Framed) wird, dann werden sicherlich meine Bauchschmerzen im Zusammenhang mit der Bindungstheorie verschwinden. Auf diesen Tagen freue ich mich, schon jetzt.