Blog-Layout

Eine Frage der Moral

Christophe Witz • 21. April 2020

Die Entwicklungspsychologie der Moralvorstellung

Lawrence Kohlberg war ein Schüler von Jean Piaget und hat zeitlebens erforscht, wie sich moralische Ansichten bei Menschen entwickeln. Dies tat er, indem er Menschen in fiktive schwierige Situationen versetzte, auf die es keine einfache Antwort oder Lösung gibt. Hier ein Beispiel:

Heinz ist verheiratet. Seine Frau ist seit kurzem lebensbedrohlich erkrankt. Der Apotheker im Ort verkauft ein Medikament dass Heinz´ Frau retten könnte, es ist aber so teuer, dass es sich Heinz nicht leisten kann. Was sollte Heinz tun?

Herr Kohlberg stellte fest dass Menschen unterschiedliche Antworten auf dieses Dilemma geben. Diese unterschiedlichen Antworten gruppierte er in verschiedene Stufen, die erklären sollen wie die moralische Entwicklung verläuft. 

Auf Stufe 1 orientiert sich Heinz an dem was erlaubt ist. Wenn man etwas verbotenes tut, wird man bestraft, und das tut weh (körperlich oder finanziell). Also tut Heinz es nicht. Die Polizei ist stärker und mächtiger als Heinz, das macht ihm Angst (bzw er hat Respekt). Er kann seiner Frau leider nicht helfen.

Auf Stufe 2 orientiert sich Heinz an Bedürfnissen, und zwar meistens an seinen eigenen. Regeln sind gut, vor allem wenn sie Heinz nutzen. Andere sehen das vielleicht genauso, also ist wichtig zu verhandeln um den besten Deal zu finden. Demnach würde Heinz in die Apotheke einbrechen und das Medikament stehlen um seine Frau zu retten. Schließlich kocht sie ja ganz gut. 

Die bisherigen Stufen nennt Kohlberg prä-konventionell, weil sie früh in der Entwicklung auftauchen (etwa bei Kindern). Die meisten Menschen erreichen die konventionelle Stufen 3 und 4.

Auf Stufe 3 orientiert sich Heinz an Beziehungen. Er möchte gern die Erwartungen von Menschen die ihm nahe stehen erfüllen: ein guter Ehemann sein, ein guter Vater, ein guter Staatsbürger. In Beziehungen legt er Wert auf Vertrauen und gegenseitige Achtung, wie sie in der „Goldenen Regel“ formuliert ist: „Was Du nicht willst das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“. Heinz würde also in die Apotheke einbrechen, das Medikament stehlen und seine Frau retten. Schließlich würde seine Frau dasselbe auch für ihn tun. In der Apotheke hinterlässt er Bargeld, soviel wie ihm möglich ist zu bezahlen. 

Auf Stufe 4 orientiert sich Heinz am Gewissen. Ein Staatsbürger hat die Pflicht die Gesetze zu achten. Zwar gibt es Ausnahmefälle, aber ein Gesetzesübertritt ist nichts was man auf die leichte Schulter nehmen sollte. Wenn das jeder täte, wohin kämen wir dann als Gesellschaft? Also bricht Heinz in die Apotheke ein, stiehlt das Medikament und rettet seiner Frau das Leben. Sobald klar ist dass es ihr besser geht, stellt er sich der Polizei und beichtet den Einbruch. Er wird die Bestrafung mit pflichtbewusstem Stolz auf sich nehmen. (Ein Gericht könnte diese noblen Motive anerkennen und Milde walten lassen).

Die meisten Menschen erreichen im Laufe ihrer Entwicklung Stufe 3 oder 4. Solche Menschen „funktionieren“ gesellschaftlich gut und engagieren sich angemessen in den demokratischen partizipativen Möglichkeiten. 

Stufe 5 und 6 nennt Kohlberg „post-konventionell“ weil sie über das Gewöhnliche hinausgehen und nur selten realisiert werden. Hier orientiert man sich an allgemeingültigen ethischen Prinzipien, wie etwas „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Die Väter des Grundgesetzes müssen sich in diesen Sphären befunden haben als den Paragraph 1 niederschrieben. Auch Immanuel Kant und Abraham Lincoln werden die Fähigkeit zu postkonventionellem moralischen Denken zu geschrieben. 

Soweit zu diesem kurzen Überblick zur Entwicklung der Moral. 

Noch eine fachliche Anmerkung: Ähnlich wie bei Piagets Konzept der kognitiven Entwicklung ist bei Kohlbergs Stufenmodell der Moralentwicklung eine zunehmende Differenzierung festzustellen, ein Lösen aus dem Eingebundensein in egozentrische Perspektiven und eine Vervielfachung der einnehmbaren Perspektiven. Dies scheint mir ein Grundprinzip der geistigen Entwicklung zu sein.

Literatur: Robert Kegan, Entwicklungsstufen des Selbst (1994)
Share by: