Die Bindungstheorie beschreibt emotionale Verhaltensmuster zwischen Eltern und Kindern, Ehepartnern und Familienangehörigen. Diese emotionalen Verhaltensmuster sind zum Teil angeboren und bilden sich in den ersten Lebensjahren des Kleinkinds in der Interaktion mit dem versorgenden Elternteil aus, und haben starken Einfluss auf das spätere Beziehungs-Erleben und die spätere Beziehungs-Gestaltung des Kindes. Durch Selbst-Reflektion kann man als Erwachsener diesen emotionalen Mustern auf die Schliche kommen und sie, wenn nötig, kognitiv erfassen und beeinflussen („Kenne Dich selbst“). Diese Form der Selbstreflektion nennt man Mentalisieren. Diese findet am effektivsten im Gespräch mit einem Außenstehenden statt, einem Freund außerhalb der Familie, oder einem Coach oder Supervisor.
Diese knappe Zusammenfassung der Bindungstheorie soll deren Bedeutung für alle zwischenmenschlichen Belange nochmals aufzeigen. In meiner praktischen Arbeit als Systemischer Familientherapeut greife ich oft darauf zurück. In der Praxis ist die Bindungstheorie nach meiner Erfahrung in vielen Bereichen gut kompatibel mit der Systemischen Theorie, wenn auch nicht in Allen. Diese Überschneidungen und Unterschiede interessieren mich sehr.
Daher war ich erfreut, einen Text zu finden, der die Verknüpfung von Bindungs- und Systemtheorie weiter beleuchtet. Dr. Alexander Trost beschreibt in seinem Buch „Bindungswissen für die systemische Praxis“ (Vandenhoeck & Ruprecht, 2018) eine Studie, die die Bindungsstile von Systemischen Therapeuten erfasst und sie mit repräsentativen Stichproben vergleicht.
Dabei zeigte sich, dass überzufällig viele SystemikerInnen einen unsicher-ambivalenten Bindungsstil aufweisen. Im Sinne der Selbstreflektion ist dies ein interessantes und berichtenswertes Ergebnis.
Positiv gewendet bedeutet dies, dass viele SystemikerInnen sehr feine Antennen haben für das innere Erleben ihrer Klienten, sie sind auch gerne bereit emotional in die Arbeitsbeziehung zu investieren. Auch bei Frustrationen und Komplikationen des Beratungsprozesses bleiben sie in Verbindung mit dem Klienten. Sie können ein Modell sein für den Ausdruck von Emotionen wie Angst, Wut und Ärger, vorausgesetzt sie sind selbst-reflexiv genug für einen bewussten Umgang damit.
Umgekehrt besteht das Risiko darin, sich emotional mit eigenen Themen mit dem Klienten zu verstricken und durch die schnelle Bindungsaktivierung an Empathie einzubüßen. Dagegen hilft regelmäßige Supervision und Teambesprechungen, um wieder die Meta-Ebene der Selbstreflektion zu erreichen.
Lieber Leser, ich hoffe dieser Text ist ein Beitrag zu Deiner eigenen Selbstreflektion. Ich wünsche viele gelingende Prozesse und Interaktionen mit Klienten im Jahr 2023.
Christophe Witz