Der Begriff Mentalisieren wird zunehmend bekannter in therapeutisch-pädagogischen Kreisen.
Hier nochmal die Kurzdefinition: die Fähigkeit, sich ein Bild machen zu können von den eigenen inneren Vorgängen und denen in anderen Personen, und diese in einen sinnvollen Zusammenhang bringen zu können.
Im Ersten Teil der Reihe "Konzepte der Mentalisierung" beschreibe ich ein Tool aus der Praxis der professionellen Beziehungsgestaltung.
Der AZSW Zyklus
A wie Aushandeln
Am Anfang einer therapeutischen Beziehung steht das Aushandeln, das beinhaltet das Erklären und Festlegen der Rahmenbedingungen in denen Gespräche stattfinden (Zeit, Ort, Do's and Don'ts), die Wünsche und Erwartungen aneinander (Auftragsklärung), sowie das Verhandeln darüber. Am Ende steht eine Entscheidung für oder gegen eine Zusammenarbeit die aufgrund möglichst transparenter Bedingungen getroffen werden sollte. Dazu gehört auch dass die Therapeutin erläutert, was sie tun kann, was ihre Kompetenzen sind und wo sie enden.
Z wie Zusammenarbeit
Nach erfolgten Aushandeln der Rahmenbedingungen kann die Zusammenarbeit starten. Gelingt die Auftragsklärung gut, kommt man relativ schnell ins Arbeiten und in den Prozess, der kognitives und emotionales Lernen ermöglicht. Dies beinhaltet das Reflektieren von Konflikten, von schwierigen Beziehungserfahrungen der Vergangenheit sowie das Klären von emotionalen Vorgängen in einem Selbst und in Anderen. Die Arbeitsbeziehung zwischen Therapeut und Klient stimmt sich affektiv-kommunikativ aufeinander ein. Die Sache läuft.
S wie Störung
Durch den begonnenen Prozess und das Aufeinander Einstimmen werden größere Tiefen im affektiven Beziehungsgeschehen erreicht, und in diesem Bereich ist es sehr wahrscheinlich dass biographisch weiter zurückliegende Probleme aktiviert werden und eine Störung in der Interaktion verursachen. In der Sprache der Bindungstheorie werden frühe Beziehungserfahrungen, die im Inneren Arbeitsmodell abgespeichert sind, und damit zusammenhängende Erwartungen an unsere Interaktionspartner aktualisiert. In der Sprache der Tiefenpsychologie bekommt die Therapeutin hier Übertragungen ab, die ursprünglich in der frühen Interaktion des Klienten mit seinen Bindungspersonen entstanden sind, und je nach Qualität der Bindungssicherheit kann diese Übertragung mehr oder weniger heftig ausfallen.
Das klingt alles irgendwie kompliziert, und meistens ist es das auch. Aber, wie Sigmund Freud schon sagte, die wahre therapeutische Arbeit findet an den Widerständen statt, also dort wo es hakt und klemmt. Einmal kommt die Zeit, sich damit zu befassen.
W wie Wiederherstellen der Arbeitsbeziehung
Am Punkt der auftretenden Störung ist dem Klienten ein gelingendes Mentalisieren meist nicht mehr möglich. Genau an dieser Stelle kann die Therapeutin beweisen dass sie ernst meint, was sie beim Aushandeln der Rahmenbedingungen formuliert hat: dass die gewillt ist, das therapeutische Bündnis auch in schwierigen Momenten aufrechtzuerhalten. Auf welche Weise das Angebot zur Wiederherstellung der Arbeitsbeziehung erfolgt, ist dem Geschick und der Erfahrung der Therapeutin überlassen. Es sollte jedenfalls das Angebot enthalten, die Kommunikation trotz der Störung nicht abreißen zu lassen und behutsame Reflektion des Geschehens ermöglichen. Dazu kann auch gehören, eigene Fehler der Therapeutin („Vielleicht habe ich etwas Falsches gesagt oder etwas falsch verstanden?“) einzuräumen.
Gelingt die Wiederherstellung der Arbeitsbeziehung, erfolgt wieder Punkt A
– erneutes Aushandeln der Rahmenbedingungen, vielleicht leicht abgewandelt durch die Erfahrung der Störungsphase.
Wenn der Zyklus gelingt, wächst bei jedem Durchlauf die Erfahrung dass innere Zustände und Beziehungen regulierbar sind, und zwar trotz – oder vielleicht gerade wegen – unvermeidlich auftretender Probleme und Krisen.
Quelle: Maria Theresa Diez Grieser & Roland Müller: Mentalisieren mit Kindern und Jugendlichen. Klett-Cotta 2018.